D. Langewiesche: Reich - Nation - Föderation

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Titel
Reich, Nation, Föderation. Deutschland und Europa


Autor(en)
Langewiesche, Dieter
Erschienen
München 2008: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
332 S.
Preis
€ 14,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wilfried Loth, Historisches Institut, Universität Duisburg-Essen

In den vierzehn Studien, die unter diesem etwas sperrigen Titel versammelt sind, geht es im Kern um ein Aufbrechen des kleindeutsch-nationalstaatlichen Geschichtsbildes, das, wie Jacob Burckhardt einst spottete, „die ganze Weltgeschichte von Adam an siegesdeutsch angestrichen und auf 1870/71 orientiert“ hat. Es hat das öffentliche Bewusstsein in Deutschland nachhaltig geprägt und wirkt auch heute noch vielfältig auf das Verständnis von Nation und Nationalstaat ein, mit politisch oft verhängnisvollen Folgen.

Gestützt auf neuere Forschungen zur Resonanz auf die „Befreiungskriege“ (Ute Planert), zum Deutschen Bund (Jürgen Müller) und zu den Propagandisten von Preußens „nationaler Sendung“ (Hedda Gramley) macht Langewiesche darauf aufmerksam, dass es sich bei der Orientierung auf den preußisch-kleindeutschen Nationalstaat als Zielbild deutscher Geschichte um eine Geschichtskonstruktion handelt, die von ihren Verfechtern in geschichtspolitischer Absicht durchgesetzt wurde. Die Erfindung von Tradition war auch hier das Ergebnis eines Machtkampfs, in dem unterschiedliche Vergangenheitsbilder gegeneinander angetreten waren, um über die Zukunft entscheiden zu können.

Gegen die Vorstellung vom Nationalstaat als alternativlosem Endpunkt der Geschichte bringt Langewiesche zunächst den Herrschaftstyp des Imperiums unterschiedlicher Völkerschaften zur Geltung, das über viele Jahrhunderte den Normalfall von Herrschaftsorganisation darstellte und sich in der spezifischen Form der Sowjetunion noch bis zum Ende des 20. Jahrhunderts unangefochten behaupten konnte. Selbst die Nationalstaaten des 19. Jahrhunderts machten sich über kurz oder lang daran, von dem erreichten nationalstaatlichen Kern imperial auszugreifen. Das Heilige Römische Reich deutscher Nation stellte in dieser Hinsicht weder einen Sonderfall noch einen Irrweg deutscher Geschichte dar. Schon gar nicht kann man die Orientierung an der Reichsidee für die antimoderne Frontstellung der Deutschen und damit für die Katastrophe des Nationalsozialismus verantwortlich machen. Langewiesche wendet sich hier gegen die Deutung der deutschen Nationalgeschichte durch Heinrich August Winkler, der in seinem „langen Weg nach Westen“ in der Tat von einem allzu vereinfachten Bild westlicher Normalität ausgeht und damit das preußisch-kleindeutsche Geschichtskonstrukt letztlich nur fortschreibt.

Eine zweite wichtige Beobachtung gilt dem Phänomen des „zusammengesetzten Staates“, in dem sich Herrschaftsgewalten überschneiden und territorial unterschiedliche Herrschaftsformen koexistieren. Auch in dieser Hinsicht stellte das Alte Reich keinen Sonderfall dar. Die jüngere Frühneuzeitforschung weist vielmehr darauf hin, dass die Zentralisationsbestrebungen der Fürsten überall auf Grenzen stießen. Selbst in Frankreich, dem Urbild des zentralisierten Staates, blieben bis zum Vorabend der Revolution Elemente des zusammengesetzten Staates erhalten. Langewiesche macht daher geltend, dass der Deutsche Bund in der Tradition des zusammengesetzten Staates gesehen werden kann; dieser Begriff passt jedenfalls besser als die moderne Vorstellung von einem Staatenbund. Auch gibt es Kontinuitätslinien über die Zäsuren von 1866 und 1871 hinweg: Da die Nationalstaatsbildung in Deutschland nur zum geringeren Teil über Annexionen, in der Hauptsache dagegen als Zusammenschluss der Fürstentümer erfolgte, blieben der Zentralisierung Grenzen gesetzt; die mediatisierten Fürsten trugen dazu bei, dem neuen Staat die Loyalität auch derjenigen zu sichern, die ihn sich ganz anders vorgestellt hatten. Ein vergleichender Blick auf Italien, wo die Entthronung der Fürsten zu einer bis heute anhaltenden Distanz gegenüber den Zentralinstitutionen geführt hat, bekräftigt diesen Befund.

Langewiesche überzeichnet allerdings die Kontinuitäten, wenn er den Deutschen Bund als „Föderation“ bezeichnet (S. 188) und sein Scheitern allein auf die Verweigerung von Zugeständnissen an das Prinzip der Volkssouveränität zurückführt. So richtig es ist, dass der Bund die rechtliche Vereinheitlichung der Nation wesentlich vorangetrieben hat, so wenig ist zu sehen, dass sich die nationale Bewegung auf Dauer mit weniger als einem Bundesstaat zufrieden gegeben hätte. Dazu waren aber die kleineren und mittleren Fürsten gerade nicht bereit; sie nutzten vielmehr den Bund seiner Gründungsphilosophie entsprechend als Schutzschirm zur Behauptung ihrer Eigenstaatlichkeit und suchten der erneuten Unterordnung unter eine Zentralgewalt, wie sie im Alten Reich der Kaiser symbolisiert hatte, zu entkommen. Ein Verzicht auf zentralstaatliche Einheit zugunsten vermehrter Freiheiten in den Einzelstaaten erscheint als eine wenig realistische Alternative.

Von diesen Übertreibungen abgesehen ist Langewiesche aber durchaus zuzustimmen, wenn er den föderativen Grundzug in der deutschen Geschichte betont und auf die sehr begrenzte Gültigkeit des Nationalstaatsprinzips verweist. Zu Recht weist er darauf hin, dass sich die deutsche Nation wiederholt neu erfinden musste – im Kontext von 1871, aber auch nach 1945, als mit dem tradierten Wertehaushalt und seiner symbolischen Verkörperung im Militär nichts mehr anzufangen war. Er erinnert an die hohe Konfliktanfälligkeit des Nationalstaatsprinzips und zitiert in diesem Zusammenhang Walker Connors Polemik gegen eine parteiische Forschung, in der „nation usually means state, in which nation-state usually means multination state, in which nationalism usually means loyalty to the state, and in which ethnicity, primordialism, pluralism, tribalism, regionalism, communalism, parochialism, and subnationalism usually mean loyalty to the nation“ (S. 98). Schließlich macht er deutlich, dass die Staaten der Europäischen Union mit dem freiwilligen Verzicht auf nationale Souveränitätsrechte historisches Neuland betreten haben: Mit der Verpflichtung ihrer Mitglieder auf friedliche Konfliktregelungen gewinnt die EU Staatsqualität, ohne dass die Nationen als imaginierte Gemeinschaften wie als Solidarverbände an Bedeutung verlieren würden.

Wie bei Aufsatzsammlungen dieser Art unvermeidlich, ist der Band nicht frei von Wiederholungen. Manche Themen werden eher angerissen als systematisch ausgeführt – so die Verflechtung von Nation und Religion auf konkreten Handlungsfeldern oder eine vergleichende Typologie europäischer Nationalstaaten, die den einseitigen Bezug auf idealisierte Bilder der französischen und britischen Geschichte überwindet. Wer sich von den verengten Geschichtsbildern des nationalstaatlichen Zeitalters lösen will, die den Umgang und auch die wissenschaftliche Beschäftigung mit den nationalen Phänomenen noch vielfach unbewusst prägen, wird die Beiträge gleichwohl mit großem Gewinn lesen.